Wohl kaum ein Thema hat die Menschheit über die Jahrtausende hinweg so beschäftigt, wie der Spannungsbogen zwischen sexueller Lust und Fortpflanzung.

Vor mehr als 3000 Jahren entdeckten die Chinesen, dass Männer multiple Orgasmen haben können, wenn sie den Samenerguss kontrollieren oder gar völlig vermeiden. Im Westen dauerte es bis in die vierziger Jahre des letzten Jahrhunderts, bis Alfred Kinsey über ähnliche Entdeckungen berichtete. Doch obwohl seine Erkenntnisse wiederholt in Laborversuche bestätigt wurden, hat dieses Wissen immer noch keine wirkliche, gesellschaftliche Bedeutung.

Das Zurückhalten der Samenflüssigkeit bei der sexuellen Vereinigung war im alten China ein wohl gehütetes Geheimnis. Anfangs wurden diese Praktiken ausschließlich vom Kaiser und seinem engsten Kreis praktiziert. Später wurden sie vom Vater auf einen ausgewählten Sohn vererbt, aber allen weiblichen Familienmitgliedern vorenthalten. Beim Samen- und Ovar-Kungfu lernen Männer und Frauen, wie sie ihre sexuelle Energie auf die Bahn des Kleinen Kreislaufs lenken und umwandeln können.

Bei jeder Ejakulation und bei jeder Menstruation, nimmt der Körper an, dass ein neues Leben gezeugt werden soll. Dem Tao zufolge opfern alle Organe und Drüsen hierzu ihre beste Energie, die als orgastische Energie bezeichnet wird. Ein Mann ejakuliert laut Kinsey-Report durchschnittlich fünftausendmal während seines Lebens, manche Männer noch viel, viel öfter.

Aus taoistischer Sicht verliert ein Mann hauptsächlich durch den Samenerguss Energie, während die Frau Energie durch die Menstruation, nicht durch den Orgasmus verliert. Frauen können etwa dreihundert bis fünfhundert Menstruationszyklen erleben. Jedes Sperma und jede Eizelle enthält hochwirksame, schöpferische Energie.

Die taoistischen Weisen betrachten ihr eigenes Energiesystem als ganzheitliche Einheit. Ein junger und gesunder Mensch bezieht z.B. hundert Prozent der für einen Tag benötigten Energie aus Atmung, Nahrung, Schlaf und Bewegung und verbraucht etwa sechzig bis siebzig Prozent davon für sein tägliches Leben. Man könnte diese hundert Prozent als Bankguthaben verstehen. Mit zunehmendem Alter wird diese Energiebilanz jedoch immer ungünstiger. Der ältere Mensch nimmt durch Verschleiß, Stress, Erschöpfung usw. immer weniger Energie auf, obwohl sein Körper die gleiche Menge verbraucht. So gerät er allmählich ins Minus, weil er die benötigte Energie nun aus den lebenswichtigen Organen abziehen muss – aus Niere, Leber, Milz, Lunge, Herz und Bauchspeicheldrüse, dann aus den endokrinen Drüsen und letztendlich vom Gehirn. Altersbeschwerden bekommen unter diesem Aspekt eine ganz neue Dimension.

 

Jing Chi ist die feinstofflichste aller Energien, mit der ein Mensch geboren wird. Alle anderen Chi-Formen im Körper sind vom Jing, oder auch Ursprungs-Chi abhängig. Jing Chi wird durch das Zusam­men­wirken mit den Organen in Chi umgewandelt. Das Bewahren und Nähren des Jing Chi bildet die Grundlage des taoistischen Weges, es wird vor allem in den Nieren, den Samen und Eizellen gespeichert.

 

Ching Chi ist die sexuelle Essenz, es wird in den Sexualorganen gebildet. Bei Frauen ist es die Energie der Eierstöcke, bei Männern die des Samens. Ching Chi ist dichter als Chi, bewegt sich im Körper langsamer, es nährt bei Bewegung im Körper die Organe.

Die Kultivierung des Ching Chi, welches in unseren "Liebesorganen" bewegt wird ist eine der wenigen Wege, um unseren Bestand  - unser Chi Konto sozusagen - wieder aufzufüllen. Eng verbunden mit dem Drüsensystem können unsere Geschlechtsorgane große Mengen von Sexualenergie erzeugen, eine äußerst feurige Energie, kraftvoll, lebendig - aber nicht von Dauer. Um sie zu speichern, muss sie zu den Organen geleitet werden und darf nicht ausschließlich in den Sexualorganen bleiben oder "vergeudet"; d.h. ohne sie zu zirkulieren; entladen werden.

[  Heilende Liebe

Der Weg zu äußerer Schönheit durch innere Bewusstheit, das ist eines der zu erwartenden Ergeb­nisse, praktiziert man einige Zeit die taoistischen Lehren. Neben einem vermehrt ruhigeren, emotionalen Verhalten bemerkt man die Wirksamkeit taoistischer Praxis am ehesten an der zunehmen­den Abwesenheit von Beschwerden. Weniger Schlaf, bessere Verdauung, erfüllterer Sex und grund­sätzlich bessere Laune steigern unsere Lebensqualität deutlich.

Der Mensch kann nur dann ein erfülltes Leben führen, wenn er sich mit den Grundkräften des Lebens in Harmonie befindet. In taoistischem Verständnis entspricht Harmonie etwa allumfassender Liebe. Verstößt er gegen das Gesetz des Austauschs von Yin und Yang, indem er die sexuelle Vereinigung der Yin Energie mit der Yang Energie unterbindet, kann das Chi im Körper nicht richtig fließen, die Lebenskraft wird langsam zum Stillstand kommen und entweichen. Das Leben wird fad und eintönig, nur hin und wieder durch kurzes Aufflammen der erstarrten Leidenschaft unterbrochen.

Der einzige Weg, wirklichen Nutzen aus den taoistischen Praktiken zu ziehen ist jedoch, sie tatsächlich anzuwenden.

[  Die geheime Kunst der Jadekammer

 

Im Klassiker der 'Geheimnisvollen Dame', einem alten taoistischen Text, enthüllt das Elementare Mädchen dem Gelben Kaiser die »Kunst des Schlafgemachs«.

Dort heißt es. dass eine Frau mit einer Fülle von Yin und sehr wenig Yang sexuell begehrenswerter sei. Heute würden wir sagen, dass die sexuell begehrenswerte Frau gut mit weiblichen Hormonen versorgt ist.

Ohne Yin gibt es für Yang keine Freude, und Yin ohne Yang ist nicht erregt. ln solchen Fällen begehrt der Mann die Vereinigung, aber die Frau ist dabei unglücklich, oder die Frau begehrt die Vereinigung, doch dem Mann fehlt die Begierde. Wenn die Herzen nicht im Einklang sind. kommt es nicht zur Erweckung der Essenzen und folglich auch nicht zu Liebe und Lust.

Wenn jedoch der Mann die Frau umwirbt und die Frau den Mann, führt das bei beiden zur Verschmelzung von Geist und Begehren und das erfüllt ihre Herzen mit großer Freude.

Nachdem die Leidenschaft der Frau geweckt ist. streichelt sie den Jadestängel des Mannes und verleiht ihm so die nötige Kraft, um ihre Jadeterrasse zu erkunden. Dies lässt bei beiden eine Fülle von Säften fließen. Der kräftig angewachsene Jadestängel bewegt sich bald langsam, bald schnell. Das Jadetor öffnet sich, um das Eintreten des mächtigen Gegenspielers zu erleichtern und seine Essenz, welche die scharlachrote Kammer bewässert. aufzunehmen.

Bei ihrer Antwort auf das männliche Yang zeigt die Frau folgende Reaktionen:

»Ihre Ohren sind so heiß, als hätte sie schweren Wein getrunken. Ihre Brüste ragen so fest empor, dass sie seine Hände füllen. Erregt windet sich ihr Hals und zittern ihre Beine. Zwar versucht sie, ihre lasziven Regungen zurückzuhalten, aber plötzlich umklammert sie den Körper des Mannes, presst ihren Körper fest gegen den seinen und klopft ihn sanft.«

Letzteres beschreibt eine Grundtechnik der chinesischen Massage, die auf Akupunkturpunkte zielt. Diese erotische Variante der Akupressur wirkt sexuell sehr anregend.

Als Nächstes wird dem Gelben Kaiser erklärt, warum er die Vier Errungenschaften (des Jadestängels) abwarten sollte: »Wenn der Jadestängel nicht zornig ist, ist die harmonische Essenz des Mannes noch nicht angekommen. Wenn er steif, aber nicht heiß ist, ist seine spirituelle Muskelessenz noch nicht angekommen. Wenn er groß. aber noch nicht steif ist, ist seine Knochenessenz noch nicht angekommen. Wenn er unbeugsam, aber nicht heiß ist, ist seine Geistessenz noch nicht angekommen. « Um die gewünschte Vereinigung zu erbringen, müssen alle vier Voraussetzungen erfüllt sein, selbst wenn der Mann schon eine Erektion haben sollte.

Als Nächstes erkundigt sich der Gelbe Kaiser nach den Neun Essenzen der Frau. Er möchte erfahren. was sich dahinter verbirgt und wie er feststellen kann, dass sie erweckt worden sind. Darauf antwortet die Geheimnisvolle Dame: »Wenn eine Frau tief seufzt und schluckt, ist ihre Lungenessenz geweckt worden. Wenn sie kleine Schreie ausstößt und an seinen Lippen saugt, ist ihre Herzessenz geweckt worden. Wenn ihr Yin-Tor feucht und schlüpfrig ist, ist ihre Nierenessenz geweckt worden. Wenn sie den Mann umklammert und festhält, ist ihre Milzessenz geweckt worden. Wenn sie ihn zärtlich beißt, ist ihre Knochenessenz geweckt worden. Und wenn sie schließlich mit seinem Jadestängel spielt, ist ihre Blutessenz geweckt worden.«

Das Elementare Mädchen erläutert die Fünf Begierden: »Wenn eine Frau den Atem anhält und ihre Energie zügelt, begehrt ihr Geist die sexuelle Vereinigung. Wenn sich ihre Nasenflügel und ihr Mund öffnen, begehrt ihr Yin-Tor die Vereinigung. Wenn sie plötzlich den Mann umklammert, begehrt sie den Höhepunkt.

Wenn ihr Schweiß die Kleider durchnässt, begehrt ihr Herz Erfüllung. Wenn sie ihren Körper streckt und ihre Augen schließt, ist sie der Ekstase nahe.« Als Nächstes werden die Fünf Symptome bei der Frau erwähnt und gleichzeitig Empfehlungen für das passende männliche Verhalten gegeben: »Wenn ihr Gesicht gerötet ist, solltest du allmählich mit der Vereinigung beginnen. Wenn ihre Brüste voll sind und sich an ihrer Nase Schweißperlen zeigen, solltest du den Jadestängel langsam einführen. Wenn ihr Hals trocken ist und sie zu schlucken beginnt, solltest du den Jadestängel gemächlich hin und her bewegen. Wenn ihre Grotte schlüpfrig ist. solltest du langsam in ihre Tiefe dringen. Wenn ihre Säfte zum Gesäß überfließen, dann solltest du den Jadestängel langsam zurückziehen .« Diese Ratschläge des Elementaren Mädchens betreffen die frühen Phasen der Vereinigung, bevor sie leidenschaftlich zu werden beginnt.

Zusätzlich erörtert das Elementare Mädchen die Zehn Bewegungen der Frau in den süßen Qualen der Leidenschaft. Sie rät der Frau. stark zu bleiben: »Wenn sie ihn mit den Armen umklammert., verlangt sie danach, dass sich ihre Körper gegen einander pressen und sich ihre Genitalien berühren. Sollte sie ihre Schenkel öffnen, so möchte sie ihre obere Scham gegen ihn reiben. Wenn sie den Bauch einzieht begehrt sie den Orgasmus. Wenn sie das Gesäß schüttelt, so wünscht sie, nach rechts und nach links tief aufgeschnitten zu werden. Wenn sie ihren Körper gegen seinen hebt, ist ihre Lust übergroß. Wenn sie sich streckt. sind ihre Glieder und ihr Körper entzückt.

Die taoistischen Lehren bieten weder Religion noch Ehe als Mittel zum Gleichgewicht an, eher die innige Verbindung und Verschmelzung der subtilen inneren Energien, Yin und Yang genannt. Der Mensch wird ermutigt, seine natürliche innere Lebenskraft, das Chi, zu entwickeln, zu mehren und bei sich zu halten.

Zuerst müssen wir uns die göttlichen und feinstofflichen Energien bewusst machen, um sie dann in unserem Körper auszubalancieren. Hierzu sind in uns noch schlafende Sinne zu erwecken. Sowohl rein körperliche Übungen als auch geistig, meditative Haltungen sind für diese 'Erweckung' anzuwenden, um das Spüren und Bewegen des Chi im Körper zu bewältigen. Da die Anlagen hierzu in jedem Menschen schlummern, kann dies auch jeder lernen. Alle meine Schüler/-innen konnten das Chi spüren, sobald sie gelernt hatten, wie man nach innen blickt und auf was zu achten ist. Einzig  in der Dauer dieses 'Erweckens' unterscheiden sich einzelne Menschen.

Sexualität wird im Tantra als Mittel zur Bewusstseinserweiterung genutzt, als besonders kraftvolle Methode. Eine Möglichkeit besteht darin, Sexualität als Mittel der Erweckung zu nutzen.

Zentrale Merkmale sexueller tantrischer Praxis sind: lange Vereinigungen, Energiekanalisierung, Zurückhaltung des Samens und alternative Formen des Orgasmus. Es geht im Tantra viel um bestimmte alchemistischen Methoden, die sich aus der Zusammensetzung der Sexualelixiere entwickeln.

Aus taoistischer Sicht ist die Sexualkraft die stärkste Manifestation von Chi in unserem Körper. Können wir diese flüchtige Kraft halten, ist das ein unverzichtbarer Schritt zur Selbstheilung. Die Praktiken der Heilenden Liebe, der Fusion der Fünf Elemente und des Kan & Li sind eine Wegbeschreibung für diesen spirituellen Weg.